Auf dem Kreisparteitag in Bautzen ist Rolf Stöckel für seine 50 jährige Mitgliedschaft in der SPD geehrt worden. Die Kreisvorsitzende Kathrin Michel und ihr Stellvertreter Alex Scholz gratulierten ihm herzlich, denn solch eine Parteibiografie ist hier im Osten doch eher die Seltenheit.
Rolf antwortete mit einer vorbereiteten Rede, von den wir hier in Ausschnitten zitieren.
Hätte mir vor 50 Jahren als Junge aus dem Ruhrpott natürlich nicht vorstellen können, dass ich 2025 ausgerechnet in Bautzen für meine Mitgliedschaft in der SPD geehrt werde. Ich möchte Euch auch für die herzliche Aufnahme in dieser schönen Stadt und großartigen Partei danken – aber auch daran erinnern, dass weder Jugend noch Altern ein Verdienst ist.
Ich war damals bei der Sozialistischen Jugend – den Falken im westlichen Westfalen – seit einigen Jahren in der Kinder- und Jugendarbeit aktiv. Einer Vorfeldorganisation, die es heute leider immer weniger gibt. Politisert wurde ich durch die 68er-Studentenbewegung, den Einmarsch des Warschauer Paktes in die CSSR und den faschistischen Putsch in Chile. Aber auch durch engagierte evangelische Pastoren und liberale Marxisten – Vordenker der undogmatischen Linken, denen ich in der Bildungsarbeit der Falken begegnet war. Sie wandten sich, allesamt antikapitalistisch, auch gegen die Perversion des Stalinismus und seine westdeutschen Ableger.
Ich war linksradikal, Träumer, Freidenker – hatte aber im Jugendverband auch gelernt, wie man politische Aktion und Praxis organisiert. Und ich machte meine Erfahrungen mit der Selbstzerfleischung der zersplitterten Linken. Meine Freundinnen und Freunde und ich fühlten uns damals eher der Hippie- und Anarcho-Kultur verbunden, hörten Ton Steine Scherben, auch Wolf Biermann, und lebten in einer Wohngemeinschaft auf einem kleinen Bauerndorf mit Gleichgesinnten in der Kommune „linke Furche“. Wir ließen keine Demo aus: gegen NATO-Nachrüstung für den Frieden, gegen Atomkraftwerke, gegen den §218 und auch gegen den Sozialabbau unter der Regierung Helmut Schmidt – der sich später mal im Gespräch mit mir köstlich darüber amüsierte und natürlich Recht behalten wollte.
Geprägt war ich durch die große Bergarbeiterfamilie, in der ich aufwuchs: Der Urgroßvater bereits unter den Sozialistengesetzen Bismarcks Sozialdemokrat, mein Großvater – als eins von elf Kindern 1903 geboren – mit 14 Jahren schon Bergjungarbeiter und in der SAJ aktiv, unter den Nazis arbeitslos und verfolgt, nach der Befreiung vor 80 Jahren lange Betriebsrat auf derselben Schachtanlage. Er hatte während des Faschismus illegal den „Vorwärts“ im Streichholzschachtel-Format, der vom Exilvorstand der SOPADE aus Prag kam, verteilt und die verbotenen Bücher unter den Kohlen im Keller versteckt.
Vor 1933 waren alle Männer meiner Familie im „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, schützten sozialdemokratische Versammlungen gegen braune Schläger – gemeinsam mit Mitgliedern des Christlichen Zentrums und der liberalen Deutschen Partei – und die Weimarer Republik. Meine Großmutter war in den 1920ern Vorsitzende der SPD-Frauen, bis die SA ihre letzte Versammlung auflöste und sie sich nur noch heimlich im Haus meiner Großeltern treffen konnten.
Im März 1975 legte mein Großvater Karl mein Parteibuch auf den Tisch und meinte: „Halt Stille!“ (sein Lieblingsspruch, wenn er meine Vorträge unterbrach). „Ich zahle deinen Beitrag, bis du selbst Geld verdienst, und du gehst nicht zu den Kommunisten – kein Widerwort!“ Ich konnte und wollte mich also nicht wehren.
Jetzt sollte ich meine „revolutionäre Ungeduld und Wut“ in konstruktive politische Kernerarbeit für unsere Ziele umwandeln. Bis 1986 war ich noch bei den Falken als Funktionär aktiv, beratend im Bezirksvorstand der SPD mit Franz Müntefering, und wurde gebeten, den Vorsitz in Bönen zu übernehmen – ein Ortsverein mit damals noch 600 Mitgliedern.
Es folgte die typische Ochsentour im Unterbezirk Unna: Beisitzer, Schatzmeister, UB-Vorsitzender und dann 1998 MdB-Kandidat. Bis 2009 war ich Bundestagsabgeordneter – 2008 scheiterte ich bei der Aufstellung mit 8 fehlenden Stimmen. Die Agenda 2010, Auslandseinsätze der Bundeswehr (die ich unterstützte), mein Engagement als Bundesvorsitzender des Humanistischen Verbandes für Patientenverfügung und autonomes Sterben – und wohl auch die gut organisierten Jusos im Unterbezirk, die ich stets förderte – haben dazu beigetragen. Ich war auch erschöpft.
Nach der friedlichen Revolution in der DDR und dem Fall der Mauer – von der wir alle gedacht hatten, sie nie zu erleben – fuhr ich am 30. Januar 1990 mit einigen Genossinnen und Genossen, Kopierern, Material, einer großen SPD-Fahne und Sitzungsglocke nach Roßwein im Kreis Döbeln und gründete dort mit sieben engagierten Menschen den SPD-Ortsverein. Diesen haben wir über fünf Jahre als Partner-OV in Wahlkämpfen unterstützt – mit Zelten, Tischgarnituren, westfälischen Grillwürsten und Bierfässern –, bis Roßwein Partnerstadt von Freiberg am Neckar wurde und nur noch einige persönliche Kontakte blieben. Ich habe dort auch ein paar Mal im Kinderzimmer unseres heutigen Landes- und Fraktionsvorsitzenden, bei Familie Homann, übernachtet.
Wahrscheinlich war ich auch der Einzige, der sich traute, am 30. Januar 1990 nach der Gründungsversammlung in der Genossenkneipe „Geige“ nach einigen Runden Landskron und Wilthener Weinbrand die Gitarre rauszuholen und alte Lieder der Arbeiterbewegung zu schmettern. Die Resonanz war – zugegeben – durchwachsen. Aber es wurde noch lange in Roßwein davon erzählt.
Bemerkenswert waren neben der großen Enttäuschung bei den Wahlen 1990 auch die spezifischen Probleme beim Aufbau der Ost-SPD. Es stellte sich heraus, dass der neue stellvertretende Vorsitzende – der örtliche Bauhofleiter, bei dem ich auch mal übernachtet hatte – zuvor der STASI-Chef in Roßwein war. Der damalige Initiator unserer Partnerschaft, später SPD-MdL in Sachsen, musste später wegen einiger Skandale zurücktreten – er hatte mit unseren Kopierern nicht nur das SPD-Büro, sondern auch sein privates Versicherungsbüro aufgebaut.
Ich lernte in Roßwein einen pensionierten Lehrer kennen, der mir eindrucksvoll seine Lebensgeschichte erzählte: Vor der Zwangsvereinigung zur SED war er Sozialdemokrat, danach heimlich – und nach der Wende wieder offen – überzeugter Sozialdemokrat. Er wurde trotzdem nicht in die SPD aufgenommen und grämte sich bis zu seinem Tod darüber.
Ich kann hier nicht alle Anekdoten aus 50 Jahren erzählen – schon gar nicht alle Widersprüche, Misserfolge, menschlichen und politischen Niederlagen. Aber auch Schönes.
Was bleibt, ist meine Hoffnung und feste Überzeugung, dass wir gemeinsam dafür verantwortlich sind – gleich wo und an welcher Stelle –, die Flamme unserer sozialdemokratischen Werte und Geschichte weiterzutragen. Die vieler, die sich abgerackert haben, die verfolgt oder ermordet wurden. Die humanistischen und demokratischen Werte der Aufklärung: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Nicht nur die „Asche zu verwahren“, wie es der französische Sozialist Jean Jaurès einst formulierte.
Dazu gehört neben guter Politik auch, dass wir immer wieder versuchen, Menschen für uns zu gewinnen und zu überzeugen – und dass wir jedem Versuch, unsere Verfassung, unsere Demokratie, unseren Sozial- und Rechtsstaat zu zerstören, laut und klar Widerstand leisten. Ich verweise hier auch auf unseren Initiativantrag zum Verbot der gesichert rechtsextremistischen AfD.
Zum Schluss möchte ich Euch einen Lieblingswitz meines Opa Karl, der über 65 Jahre SPD-Mitglied war, nicht vorenthalten. Ein Schelm, wer denkt, das könnte auch ein Kommentar zur neuen Regierungskoalition sein:
„Kurz bevor ich sterbe, trete ich noch in die CDU ein. Besser, es stirbt einer von denen als von uns.“
In diesem Sinne: Danke für die Ehrung, Eure Aufmerksamkeit – und Freundschaft.
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